Die Corona-Pandemie zwang Millionen Menschen ins Home-Office, Unternehmen mussten improvisieren und teilweise sogar ihre Geschäftsmodelle kurzfristig umkrempeln. Was macht Organisationen unter solchen Umständen anpassungsfähig?
„Als der Einzelhandel geschlossen wurde, war das ein merkwürdiges Gefühl“, sagt Katja Junghanns, die die Leipziger Buchhandlung Südvorstadt führt. „Wir wussten nicht, wie unsere Kunden reagieren werden.“
Flexibel sein
Die Buchhändlerin passte sich der Situation an: Sie tauschte Ladengeschäft gegen Lieferservice, schwang sich hinter das Steuer und brachte ihren Kunden den Lesestoff nach Hause. „Wir haben die Kasse abgeschafft und auf Rechnung umgestellt. Dafür sind wir mit viel Vertrauen in Vorleistung gegangen und wurden für unsere Flexibilität belohnt“, sagt Junghanns. Kiez und Stammkundschaft unterstützten ihren Buchladen, alle Kunden bezahlten.
Resilienz zählt
Katja Junghanns Beispiel zeigt, wie wichtig Resilienz in Krisenzeiten ist. Doch auch ohne Pandemie setzen immer mehr Organisationen darauf, anpassungsfähig und flexibel zu sein: Wer gut auf Veränderungen eingehen und schnell mit ihnen umgehen kann, hat es in zunehmend dynamischeren und disruptiven Märkten leichter.
Kleine Einheiten
„In der Regel flexibilisieren Unternehmen ihre Organisation aus zwei Gründen: Wachstum oder Risikominimierung“, sagt Hans Henrik Jørgensen-Lyon, Senior Director und Leiter Digital Transformation Enablement beim Beratungshaus Capgemini Invent. „Wenn ich flexible Organisationseinheiten habe, kann ich als Unternehmen schneller auf Veränderungen im Markt reagieren.“
So lässt sich beispielsweise die „Time-to-Market“ verkürzen, also die Dauer von der ersten Produktidee bis zur Marktreife. Auch Großprojekte werden heute oftmals durch viele kleine Bereiche schneller organisiert: „In kleinen Organisationseinheiten sagt niemand: Da müsste sich mal jemand kümmern. Jeder weiß dort: Es kommt auch auf mich an“, meint Jørgensen-Lyon.
Mehr Verantwortung
Doch warum ist das so? Hängt die Schlagkraft einer Einheit ausschließlich von ihrer Größe ab? „Nein“, meint Jørgensen-Lyon. „Flexibilisierung bedeutet, im Unternehmensverbund Freiheitsgrade zu gewinnen. Dafür legen Organisationen in erster Linie Entscheidungskompetenzen tiefer.“
Während in hierarchischen Strukturen die Chefetage Entscheidungen fällt, verfügen Mitarbeiter einer flexiblen Organisationseinheit selbst über vorab definierte Faktoren, wie zum Beispiel Produktentwicklung und Kompetenzbildung.
Dabei kann der Freiheitsgrad von kleinen Dingen wie der Bestellung neuer Büroartikel bis hin zu großen Projektvorhaben reichen. In der Regel werden bei diesem Vorgehen strukturelle Zwänge gelockert und Verwantwortlichkeiten neu aufgeteilt. Agile Strukturen können helfen, dies zu leisten.
youknow, ein Anbieter von Erklärvideos, fasst in einem kurzen Film zusammen, was agiles Arbeiten bedeutet und wie es funktioniert:
Der Agilitätsirrtum
Stockt etwas in der Organisation, zieht das Management oft und gerne die Agilitätskarte. Doch wer denkt, dass Agilität kuriert, liegt falsch: „Das Einführen agiler Strukturen kann ein Momentum bilden und Energien freisetzen“, sagt Jørgensen-Lyon dazu.
„Aber Agilität ist kein Allheilmittel, das das ursprüngliche und eigentliche Problem löst. Wer glaubt, seine Organisation über Nacht flexibilisieren zu können, wird eine herbe Enttäuschung erleben.“
Hans Henrik Jørgensen-Lyon
Agilität ist ein Arbeitsstil, Flexibilisierung erfordert jedoch strukturelle Veränderungen. Möchte sich eine Organisation flexibilisieren, muss sie ihr Denken anpassen und das neue Mindset Schritt für Schritt in der Unternehmenskultur verankern. Denn auch mehr Entscheidungsfreiheit will gelernt sein.
Drei Kriterien für erfolgreiche Flexibilisierung
Der Transformationsexperte Jørgensen-Lyon erklärt, wie sich eine Organisation mit Hilfe dreier Kriterien flexibel und dynamisch aufstellt:
Wer seine Organisation flexibel und dynamisch aufstellen möchte, sollte sich der Reihe nach einzelne Komponenten vornehmen: Wie sind IT und Personal aufgestellt? Wo entstehen Kosten, wo ist Kapital gebunden? „Lege ich alle Informationen wie eine Schablone übereinander, dann sehe ich, wo Synergien und Systeme gemeinsam genutzt werden sollten und an welcher Stelle ich Organisationseinheiten eigenständig agieren lassen kann“, sagt der Transformationsexperte Jørgensen-Lyon. Dabei sollten Unternehmen darauf achten, welche Produkte und Dienstleistungen die künftigen Leistungsträger sind und diese systematisch fördern.
Als zweites ist es entscheidend, das Warum zu kennen – warum handelt das Unternehmen so, wie es handelt? „Tatsächlich fällt es vielen Organisationen schwer, ihr Warum zu artikulieren“, berichtet der Experte. „Doch wer es schafft, seine Kernkompetenzen danach auszurichten, wird in einer beweglichen Organisation schlagkräftig und erfolgreich sein.“
Erfolgskriterium Nummer drei: „Unternehmen müssen Anreize für ‚interne Gründer‘ schaffen“, erklärt Jørgensen-Lyon. Wer hier auf monetäre Motivation setzt, ist weniger wirksam, als wenn er für intrinsische Impulse sorgt. „Frau Müller, wir haben Investitionsbudget für das Projekt geschaffen, das Sie gedanklich bereits durchgespielt haben und schon immer mal machen wollten. Würden Sie das jetzt für uns umsetzen?“, gibt der Berater ein Beispiel und fügt hinzu: „Es ist diese Art von Freiräumen, die durch die Führungsebene für eine flexible Organisation geschaffen werden muss.“
(Text: Sonja Koesling)
Mehr Input
- Blogartikel zu agilen Organisationsmodellen
Capgemini - Flexible Organisationsmodelle im digitalen Zeitalter
Deloitte - Traditionelle vs. anpassungsfähige Organisationen
Artikel von Capgemini - Not macht den Handel erfinderisch
SWR